Zwischen Faszination und Forschung: der Vagusnerv

Von Dr. Carolina Villegas Millar Lesezeit 4 Minuten
Ein großes Autobahnkreuz mit fahrenden Autos

Zunehmend mehr Menschen begeistern sich für den Vagusnerv: Der ›Wundernerv‹ unterstützt den Stressabbau, fördert Erholung und wirkt bei der Regulierung von Emotionen mit, heißt es. Wird der längste unserer Hirnnerven überbewertet oder gar unterschätzt?

Entspannung verbessern, Depressionen bekämpfen, Long-Covid-Symptome mildern und ja, sogar beim Abnehmen soll der Vagusnerv helfen können. Doch kann ein einzelner Nerv diesen Ansprüchen gerecht werden? Und was genau macht diesen Nerv so besonders?

Kurz erklärt

Der Vagusnerv ist der zehnte und längste von insgesamt zwölf Hirnnerven. Das bedeutet, dass er nicht wie die meisten Nerven aus dem Rückenmark, sondern direkt aus dem Gehirn entspringt. Seinen Namen verdankt er dem weiten Weg, den er vom Hirnstamm über den Kehlkopf, die Lunge, das Herz und den Magen bis zum Darm zurücklegt, und den vielen Ästen, in die er sich auf diesem Weg verzweigt. Der lateinische Begriff ›vagus‹ bedeutet nämlich ›umherschweifend‹ oder auch ›wandernd‹.

Der Vagusnerv ist ein wichtiger Teil des vegetativen Nervensystems, also des Systems, das die unbewussten Körperfunktionen steuert. Dieses lässt sich in zwei Gegenspieler einteilen: den Sympathikus, der unseren Körper auf Kampf oder Flucht vorbereitet (fight or flight), und den Parasympathikus, der für Ruhe und Verdauung zuständig ist (rest and digest). Dabei übernimmt der Vagusnerv zentrale Funktionen des Parasympathikus. So sind zum Beispiel die Regulierung von Atmung und Herzschlag und die Aktivierung der Verdauung seit langem bekannte, wesentliche Funktionen des Vagusnervs.

Doch der Vagusnerv wirkt nicht nur auf die inneren Organe ein, sondern er nimmt vor allem den Zustand der Organe wahr und gibt diese Informationen an das Gehirn weiter. Dies geschieht über einen komplexen Signalweg, der verschiedenste Reaktionen im Gehirn auslösen und beeinflussen kann. So registriert er zum Beispiel einen leeren Magen und leitet diese Information ans Gehirn weiter. Dies geschieht über sensible Fasern des Vagusnervs, die bei Dehnungsveränderungen der Magenwand reagieren. Es entsteht ein elektrisches Potential, das der Vagusnerv bis an das Gehirn weiterleitet. Die physiologische Reaktion auf diesen Reiz ist dann die Nahrungssuche. Der Vagusnerv stellt also durch seine reizzuleitenden Fasern die Kommunikation zwischen unserem Körperinneren und dem Gehirn sicher. Wenn es gelingt, den Vagusnerv gezielt zu aktivieren, könnten Krankheitsverläufe, Beschwerden und Verhaltensweisen positiv beeinflusst werden, erhoffen sich Forscherinnen und Forscher.

Motivation durch Stimulation

In der Psychiatrie und der Neurologie ist die gezielte Einwirkung auf den Vagusnerv über elektrische Stimulation bereits seit über zwanzig Jahren etabliert. So werden bestimmte Formen der therapieresistenten Epilepsie oder Depression mithilfe der invasiven Vagusnervstimulation therapiert. Bei Krampfleiden konnte die Anfallsrate dadurch bei 45 bis 65% der Fälle deutlich reduziert werden, wie eine kanadische Übersichtsstudie von 2020 zeigt. Die Implementierung des Stimulators, typischerweise im Halsbereich, ist jedoch mit erheblichen operativen Risiken und Nebenwirkungen verbunden, so dass eine medikamentöse Therapie in den meisten Fällen bevorzugt wird.

Die Möglichkeit, den Vagusnerv auch nichtinvasiv, nämlich mit elektrischen Impulsgebern von außen an der Ohrmuschel stimulieren zu können, hat der Vagusforschung in den vergangenen Jahren neuen Aufwind gegeben. Längst wird die nichtinvasive Stimulation als mögliche neue Therapieoption bei Erkrankungen wie Adipositas, Essstörungen oder Depressionen diskutiert. Die Forschungsgruppe um den Psychologen Prof. Dr. Nils Kroemer widmet sich unter anderem den Effekten dieser Stimulation auf die menschliche Motivation. »Unser Schwerpunkt liegt im Bereich der Behandlung der Störung von Motivation«, erklärt Kroemer. »Es geht darum, dass man bereit ist, für gewisse Belohnungen auch Aufwand zu investieren.«

Neben der Motivation widmet sich der Professor für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Bonn auch der »Rolle von körpereigenen Signalen in der Steuerung von Verhalten und Stimmung«. Eines der langfristigen Ziele seines Forschungsteams sei es, »dass man Prozesse im therapeutischen Sinne verbessern könnte, die zu einem Neulernen von Verhaltensweisen beitragen«. Wenn wir einen betont positiven Blick in die Zukunft wagen, könnte die nichtinvasive Vagusnervstimulation womöglich ganz einfach wie eine Art in-ear-Kopfhörer getragen und per Smartphone gesteuert werden. Das neuartige Gerät könnte dann beispielsweise beim Abnehmen helfen, indem es unsere Motivation in kritischen Phasen einer Ernährungsumstellung positiv beeinflusst.

Herausforderungen erkennen

Eine solche Zukunftsvision ist jedoch noch »mit vielen Fragen behaftet«, schränkt Kroemer ein. Beispielsweise fehle es an Erfahrungswerten zu den Stimulationsprotokollen, also der genauen Art und Weise der elektrischen Reizung des Vagusnervs über das Ohr. Inwieweit lassen sich die Protokolle je nach Anwendung optimieren? Auch der Zeitpunkt der Stimulation scheint wichtig zu sein. Aktuell werde in vielen Studien einfach über den Tag verteilt stimuliert, doch das Team um Nils Kroemer arbeitet mit der Vermutung, dass die Stimulation situationsbedingt erfolgen sollte. »Das ist eine Forschungslinie, die wir verfolgen: Wir versuchen zu identifizieren, in welchen körperlichen Zuständen oder Situationen man die Stimulation eigentlich geben sollte, um die bestmöglichen Effekte zu erzeugen«, berichtet er. Noch gibt es bei der Vagusnervstimulation einige grundsätzliche Modalitäten, die genauer erforscht werden müssen. Kroemer erklärt: »Ich tendiere auch eher dazu zu sagen, wir müssen da vielleicht noch mal den Schritt zurückgehen, und eigentlich besser verstehen, wodurch das wirksam wird, ansonsten können wir diese Parameter nicht sinnvoll eingrenzen.« Einen ähnlichen Gedanken hatte auch die Universität von Minnesota, USA. Sie hat 2022 zusammen mit dem National Institute of Health ein 21-Millionen-Dollar-Projekt zur Analyse der vagalen Erregung und der anatomischen Verknüpfungen ins Leben gerufen und untersucht mehr als 140 Personen, die einen invasiven Vagusnervstimulator implementiert haben.

Perspektiven entdecken

Bis zur Zukunftsvision des praktischen »Motivationskopfhörers« werden also gut und gerne noch mehrere Jahrzehnte vergehen. Bisher fehlt es an multizentrischen Studien, die klinische Fragestellungen eindeutig beantworten. Die Frage, ob der Vagusnerv ein Wundernerv sei, betrachtet Nils Kroemer differenziert: »Auf der einen Seite versuche ich natürlich, die Skeptiker zu überzeugen, dass es sich lohnt, das zu untersuchen. Auf der anderen Seite kann ich nicht so viel mit dem aktuellen Hype anfangen, weil vieles auch nicht wissenschaftlich gedeckt ist, was an Aussagen getroffen wird.« Im Netz kursierende Methoden wie zum Beispiel die Vagusnervstimulation durch Wattestäbchen oder Massagen hält der Psychologe für wenig realistisch: »Da muss man halt sagen, dass das nicht so untersucht wurde, dass man das klar auf eine Aktivierung des Vagusnervs zurückführen kann.«

Dennoch: Dass die nichtinvasive, elektrische Vagusnervstimulation diverse mögliche Anwendungsgebiete für die Zukunft bereithält, führt Kroemer auf die Bedeutung der Kommunikation zwischen Körper und Gehirn zurück: »Ich glaube, es gibt einen Grund, weswegen die Stimulation des Vagusnervs bei verschiedenen Erkrankungen eine Rolle spielen könnte. Einfach, weil dieser Mechanismus, dass körpereigene Signale an das Gehirn weitergeleitet werden und dann wieder abgeglichen werden, schon relevant ist, für die verschiedensten Erkrankungen. Nicht nur für psychische Störungen, sondern auch für somatische Symptome. Trotzdem sollte man das nicht alles in einen Topf werfen.«

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