Hermann von Helmholtz war einer der wichtigsten und vielseitigsten Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Heute ist er außerhalb der Wissenschaft nur wenigen bekannt, trotz der gleichnamigen Forschungsgemeinschaft.
Der letzte Universalgelehrte, da sind sich die Suchmaschinen relativ einig, war Gottfried Wilhelm Leibniz, geboren 1646, gestorben 1716. Er verfasste grundlegende Beiträge in so unterschiedlichen Fächern wie Philosophie, Logik, Geschichtsschreibung, Sprachwissenschaft, Mathematik und Naturforschung. Doch andere meinen, der Letzte, der das gesamte Wissen seiner Zeit überblickte, war nicht Leibniz, sondern ein gewisser Herr Helmholtz – 175 Jahre später geboren. Nach beiden ist jeweils eine große deutsche Forschungsgemeinschaft benannt. Helmholtz ist heute vielen nicht so geläufig, wenn es um umfangreiche wissenschaftliche Leistungen geht. Doch zu Lebzeiten galt er als absolute Führungsfigur der deutschen Wissenschaft, sogar als ›Reichskanzler der Physik‹.
Mit 29 den Augenspiegel konstruiert
Fast jeder hat schon einmal eine seiner Erfindungen gesehen: 1850 konstruierte er den Augenspiegel, der es Augenärztinnen und Augenärzten seither ermöglicht, durch die Pupille in das Augeninnere zu schauen und Netzhaut, Papille und Blutgefäße zu untersuchen. Hermann Helmholtz vermutete wie andere Forscher seiner Zeit, dass man das menschliche Auge beleuchten kann, und er erkannte, dass die ins Auge fallenden Lichtstrahlen auf dem gleichen Weg reflektiert wurden. Er konstruierte das Ophtalmoskop: Einen aufgesetzten halb durchlässigen Spiegel, der erstmals den Blick durch die Pupille auf den Augenhintergrund möglich und das vom Auge reflektierte Licht sichtbar machte. Ebenso entwickelte er ein Gerät zur Bestimmung einer Hornhautverkrümmung.
Das Gesetz der Energieerhaltung
Hermann Ludwig Ferdinand Helmholtz, wie er mit vollem Namen hieß, geboren am 31. August 1821 in Potsdam, hatte seine Karriere 1843 als Militärarzt begonnen – ein üblicher Weg, wenn der Vater eine Universität nicht bezahlen konnte. Als Gegenleistung für seinen staatlich finanzierten Studienplatz verpflichtete er sich, einige Jahre beim Militär zu praktizieren. Doch seine Leidenschaft galt mehr der Physik: Schon 1847, mit Mitte zwanzig, hielt er einen Vortrag vor der Physikalischen Gesellschaft ›Über die Erhaltung der Energie‹. Er stellte seine mathematisch exakt ausgearbeitete Hypothese von einer grundlegenden Einheit der Materie vor. Wärme und Muskelkontraktion, so Helmholtz, entstünden aus physischen und chemischen Reaktionen. Energien seien somit ineinander umwandelbar, könnten aber nicht gebildet oder vernichtet werden. Das war der physikalische Nachweis, dass Energie nicht verloren geht – heute bekannt als das Gesetz der Energieerhaltung oder auch als erster Hauptsatz der Wärmelehre. Helmholtz übertrug dieses Gesetz auch auf Elektrizität und Magnetismus. Damit widerlegte er den damals populären ›Vitalismus‹, eine Vorstellung von einer geheimnisvollen Lebenskraft.
Töne, Licht, Farben, Nervensystem
Helmholtz interessierte sich für fast alles Naturwissenschaftliche: Physik, Physiologie, Energie, Akustik, Aerodynamik. Er wollte das menschliche Sehvermögen verstehen, die Körperwärme ebenso wie das Tonempfinden. Schon in seiner Doktorarbeit hatte er erstmals Grundprinzipien des Nervensystems beschrieben, die bis heute gelten. Seine Untersuchungen zur Nervenleitgeschwindigkeit wurden später grundlegend für die Neurophysiologie und für die Neurowissenschaften, die es zu Helmholtz’ Zeiten noch gar nicht gab. Später bestimmte er, wie schnell sich Reize im menschlichen Nervensystem bewegen und wie lang die Wellen des UV-Lichts sind. Helmholtz zeigte, dass sich alle Farben aus drei Grundfarben bilden lassen und kam von seinen Studien zum Ohr zur Akustik und zur Klangfarbe von Tönen. Seine Erkenntnisse hatten praktischen Nutzen für die Bauweise und Stimmtechnik von Klavieren sowie für die neu entstehende Elektroindustrie.
Helmholtz wirkte an allen wichtigen deutschen Universitäten der damaligen Zeit. Er wurde Lehrer für Anatomie an der Berliner Kunstakademie, ab 1849 Professor für Physiologie in Königsberg, ab 1855 Professor für Anatomie und Physiologie in Bonn, dann in Heidelberg, 1870 Professor für Physik in Berlin. Schon zu Lebzeiten wurde er für seine Leistungen und seine Vielseitigkeit bewundert. 1882 erhielt er vom Kaiser den Adelstitel und durfte sich ›von Helmholtz‹ nennen. Er selbst nannte es ein »günstiges Geschick«, dass er »als ein mit einigem geometrischen Verstande und mit physikalischen Kenntnissen ausgestatteter Mann unter die Mediciner geworfen war, wo ich in der Physiologie auf jungfräulichen Boden von grosser Fruchtbarkeit stiess, und dass ich andererseits durch die Kenntnis der Lebenserscheinungen auf Fragen und Gesichtspunkte geführt worden war, die gewöhnlich den reinen Mathematikern und Physikern fern liegen«.
Empfänge in der Präsidenten-Villa
1888 wurde Helmholtz der erste Präsident der neu gegründeten Physikalisch-Technischen Reichsanstalt. Sie gilt als das weltweit erste außeruniversitäre Forschungszentrum und ermöglichte staatlich finanzierte Grundlagenforschung mit technischer Anwendung. Es gibt sie immer noch, sie heißt heute Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB), bekannt von der Zeitumstellung. Aber die legendäre Präsidenten-Villa, in der Helmholtz damals mit seiner Familie residierte, gibt es nicht mehr. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Helmholtz und seine zweite Frau Anna empfingen dort die vornehme Berliner Gesellschaft aus Aristokratie, Wissenschaft und Wirtschaft. Helmholtz war eben auch Netzwerker, Wissenschaftsmanager, Gründer und unter anderem mit dem Ingenieur Werner von Siemens befreundet. Sein Wort hatte Gewicht, in Forschungs-, Regierungs- und Gesellschaftskreisen.
Zu seiner Vielseitigkeit in den Naturwissenschaften passt die Helmholtz-Gemeinschaft, deren Namensgeber er wurde. Zu ihr gehören heute 18 Forschungszentren, unter anderem das Deutsche Krebsforschungszentrum und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Die erst 1995 als solche gegründete Helmholtz-Gemeinschaft ging, das wird heute oft übersehen, 1958 aus dem ›Arbeitsausschuss für Verwaltungs- und Betriebsfragen der deutschen Reaktorstationen‹ hervor. 1970 dann hieß sie ›Arbeitsgemeinschaft der Großforschungszentren‹ mit dem Schwerpunkt Kernforschung. Keimzelle, so die Selbstbeschreibung der Helmholtz-Gemeinschaft, war die Physikalisch-Technische Reichsanstalt.
Seine Schüler bewunderten ihn
Ein eloquenter Vortragsredner soll Helmholtz nicht gewesen sein. Aber er warb emsig für die öffentliche Finanzierung der Wissenschaft und machte sie in populärwissenschaftlichen Vorträgen auch einem breiten Publikum verständlich. Marx, Engels, Nietzsche und Freud lasen seine Werke. Seine Schüler nannten ihn »Meister«, Heinrich Hertz und Max Planck promovierten bei ihm. Seine Vision war ein fächerübergreifendes Forschen, um sich der Einheit allen Wissens zu nähern. Der kanadische Helmholtz-Biograph David Cahan bilanziert: »In Helmholtz’ Streben lässt sich eine ganz besondere und vielleicht sonst nie erreichte Befähigung dazu erkennen, Ideen, Begriffe, Theorien und Ergebnisse aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen in einer Synthese zusammenzuführen.« Tatsächlich trug sein Lebenswerk am Ende aber dazu bei, dass sich die Wissenschaften weiter spezialisierten. Helmholtz selbst beschrieb 1891 seinen Arbeitsantrieb rückblickend so:
Den ursächlichen Zusammenhang der Erscheinungen zu entdecken, hat mich durch mein Leben geführt.
1894 starb er an einem Schlaganfall. Er sah Wissenschaft auch als Dienst an der Gesellschaft und als internationalen Austausch, als zivilisatorische Kraft, als Fortschritts- und Friedensband zwischen Nationen. Dass das heute, 131 Jahre später, in vielen Ländern wieder auf dem Spiel steht, hätte er vermutlich nicht gedacht.