Evidenz statt Eminenz

Von Tanja Wolf Lesezeit 4 Minuten
Zitat von David Sackett: Wenn die Evidenz nicht zum Patienten passt, scheiß auf sie.

Handlungsreisender in Sachen EbM: Mit viel Enthusiasmus hat der kanadische Internist David Sackett das Konzept der beweisgestützten Medizin zum Standard gemacht.

Ein Witz unter EbM-lern geht so: Melden sich Ärzte zum Kongress der Evidenzbasierten Medizin an, kurz EbM, und wundern sich, dass es um die EbM geht – und nicht um den EBM. EBM steht für schnöden Mammon, für die ärztliche Abrechnung bei der Behandlung gesetzlich Krankenversicherter und bedeutet ›Einheitlicher Bewertungsmaßstab‹. Echte EbM-ler betrübt das, denn in einer idealen Medizin sollten solche Verwechslungen nicht vorkommen. Das Kürzel EbM steht für evidenzbasierte Medizin. Das Konzept hat vieles verändert in Arztpraxen und Krankenhäusern. Vor allem ein Mann hat es vorangetrieben: David Sackett, ein kanadischer Arzt und Forscher, sozusagen der Vater der evidenzbasierten Medizin. Es war im Jahr 1996, als er zusammen mit Kollegen im British Medical Journal seine Definition veröffentlichte: »Evidence based medicine: What it is and what it isn’t«

Attacke auf die Koryphäen

Was ist EbM? David Sackett, aufgewachsen in einem großen viktorianischen Haus mit viel Musik und vielen Büchern als drittes Kind eines Künstlers und einer belesenen Mutter, definierte es so: »Evidenzbasierte Medizin ist der gewissenhafte, ausdrückliche und angemessene Gebrauch der gegenwärtig besten vorhandenen Daten aus der Gesundheitsforschung, um bei Behandlung und Versorgung von konkreten Patienten Entscheidungen zu treffen.« Kurz gesagt ist es eine beweisgestützte Medizin. Man behandelt also nicht einfach wie immer, sondern stützt sich auf aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse. Zwei Beispiele: Bei Brustkrebs wird heute viel schonender behandelt und nicht mehr pauschal die ganze Brust sowie die Lymphknoten und Brustmuskeln entfernt. Denn man weiß durch randomisierte Studien, dass dieses radikale Operieren nicht effektiver ist als ein schonenderes Vorgehen. Bei Knieschmerzen durch Gelenkverschleiß gibt es kaum noch eine therapeutische Arthroskopie. Denn Studien belegen, dass Patienten gleich viele Beschwerden haben, egal ob sie operiert wurden oder nicht. Das hat enorme Sprengkraft. Denn es stellte das ganze System der Medizin in Frage. Medizinische Entscheidungen hingen bis dahin oft von den Gewohnheiten einzelner Chefärzte oder dem Marketing von Pharmafirmen ab. Folglich hagelte es Protest. Die EbM sei eine »Kochbuchmedizin«, hieß es häufig, entstanden im Elfenbeinturm. Sie sei ein Instrument für Manager, um die Kosten der Krankenversorgung zu senken. Schon die Namensgebung der EbM war ein Politikum, denn zunächst dachte die Gruppe um Sackett an den Begriff ›Scientific Medicine‹ – das klang, als habe die Ärzteschaft bis dahin keine Wissenschaft betrieben. Gegner gibt es bis heute.

Bei der Visite zählen nicht nur Daten

Doch geht es nicht nur um Studien. Das wird oft übersehen. Wenn David Sackett in der Klinik Visite machte, hatte er zwar immer einen Computer dabei. »Alle dachten, dass er nur in seine Daten schauen muss und sofort eine Antwort weiß«, erinnert sich Gerd Antes, von 1997 bis 2018 Direktor von Cochrane Deutschland und hierzulande Wegbereiter der evidenzbasierten Medizin. »Aber wichtiger war ihm zuerst etwas anderes. Er sagte seinen Studierenden: ›Es ist ganz einfach: Schauen Sie dem Patienten in die Augen.‹ Er hatte eine sehr zugewandte Art.« Denn David Sackett hat ein Dreieck entworfen, um die richtige Behandlung zu finden. Erstens: Belege für Nutzen und Schaden einer Behandlung aus hochwertigen Studien. Zweitens: die klinische Erfahrung und Expertise von Ärztinnen und Ärzten. Drittens: die Wünsche, Werte und Lebensumstände von Patientinnen und Patienten.

Ein Kanadier, in Chicago geboren

Und David Sackett, 1934 in Chicago geboren, war hartnäckig, durchsetzungsstark, taktisch klug, an den wichtigen Stellen machtorientiert und sehr enthusiastisch. Um die skeptische Ärzteschaft zu überzeugen, reiste er emsig umher. Er wusste, dass dicke Bretter zu bohren waren. Die ersten Reaktionen des medizinischen Establishments beschrieb er als »negativ, herablassend und abweisend«.

Kleine Uni – große Chance

Dass er zum EbM-Vorreiter wurde, lag vor allem an seinem Interesse für Epidemiologie. Nach seiner Ausbildung zum Arzt an der Universität von Illinois wollte er sich mit einem Forschungsstipendium eigentlich gerade auf Nierenkrankheiten konzentrieren, da wurde er wegen der Kubakrise 1962 eingezogen und dem US Public Health Service zugeteilt. Ab 1963 befasste er sich dann intensiv mit der klassischen Epidemiologie. Deren Methoden wollte er in der klinischen Medizin anwenden und nannte diese Kombination ›klinische Epidemiologie‹. 1967, wenige Jahre nach seinem Master of Science an der Harvard School of Public Health, bekam er die Chance: Er erhielt seinen ersten Lehrstuhl – den Gründungslehrstuhl für klinische Epidemiologie und Biostatistik an der kleinen McMaster Universität im kanadischen Ontario. Es war weltweit die erste Abteilung dieser Art und er konnte dort neue Ideen durchsetzen, etwa die, Epidemiologie und Statistik nicht isoliert zu unterrichten, sondern in jeden Teil des Lehrplans zu integrieren.

Regeln für gut gemachte Studien sind das eine – sie durchzuführen und schließlich auch zugänglich zu machen, ist das andere.

Rund 20 Jahre lang befasste er sich in Ontario mit der Frage, wie man klinische Studien verbessern könnte, ihre Methodik, ihr Design, ihre Durchführung und am Ende die Berichterstattung. Sein Kollege Gordon Gyatt, ebenfalls an der MacMaster Universität tätig, prägte 1990 dann erstmals den Begriff ›evidenzbasierte Medizin‹. Doch Regeln für gut gemachte Studien sind das eine – sie durchzuführen und schließlich auch zugänglich zu machen, ist das andere. Für die EbM mussten nun Therapien für unzählige Krankheiten verglichen werden. Es brauchte also sehr viele Freiwillige. Und eine Datenbank. Hier kam Sackett ein Schotte zu Hilfe: Der britische Epidemiologe Archibald Cochrane hatte 1972 ein wegweisendes Buch veröffentlicht mit dem Titel: Effectiveness and Efficiency: Random Reflections on Health Services. Diese und Cochranes weitere Arbeiten trugen dazu bei, dass randomisierte kontrollierte Studien als Standard akzeptiert wurden. Als sich 1993 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern zusammenschlossen, um sogenannte systematische Übersichten (Reviews) zu erstellen und 1996 die Datenbank dafür online ging, benannten sie beides nach dem Schotten: die Cochrane Library, betrieben von der Cochrane Collaboration.

In Oxford ohne Standesdünkel

1994 dann der Ritterschlag: David Sackett erhielt einen Ruf nach Großbritannien: In Oxford, wo bereits 1992 das erste nationale Cochrane-Zentrum entstanden war, wurde er Gründungsdirektor des Centre for Evidence-Based Medicine des National Health Service. Unermüdlich betrieb er die Weiterbildung der Mediziner. In mehr als 200 Bezirkskrankenhäusern in Großbritannien hielt er Lehrbesuche ab und kam auch in zahlreiche Krankenhäuser in Europa. Sackett wollte vor allem vermitteln, dass Wissen veraltet. Durchaus öffentlichkeitswirksam wiederholte er im Alter von 49 Jahren seine Facharztausbildung. Und Absolventen in Harvard gab er einmal mit auf den Weg: »In fünf Jahren werden Sie die Hälfte des Gelernten nicht mehr anwenden. Das Dumme ist: Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Hälfte.«

Mit 65 Jahren beendete der Mann, der die Medizin verändert hat, 1999 seine Karriere in Oxford und verbrachte den Rest seines Lebens wieder in Kanada, zusammen mit seiner Frau Barbara, einer Versorgungsforscherin, die er 1957 geheiratet hatte und mit der er vier Söhne und acht Enkelkinder hatte. In Ontario gründete er das Trout Research & Education Centre, befasste sich dort weiter mit randomisierten klinischen Studien, forschte, schrieb und lehrte. Insgesamt verfasste er zehn Bücher und mehr als 300 Fachaufsätze. Im Jahr 2000 wurde er in die Canadian Medical Hall of Fame aufgenommen. Am 13.Mai 2015 starb David Sackett an Krebs.

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