Der Retter der Gelähmten

Von Tanja Wolf Lesezeit 4 Minuten
Ludwig Guttmann überreicht Tony South die Goldmedaille bei den paralympischen Sommerspielen 1968.

Ludwig Guttmann hat die Paralympics erfunden und die Behandlung Rückenmarksverletzter revolutioniert. Der Neurologe war Jude und floh 1939 vor den Nazis nach England.

Man kann mit dem Bogenschießen beginnen. Oder mit Auschwitz. Beides führt zu den Paralympics – erfunden von einem Mann, den die Nationalsozialisten verfolgten und der als einer der ersten erkannte, wie wichtig Sport für gelähmte Menschen ist. Ludwig Guttmann war dieser Mann, ein deutscher Neurologe und Neurochirurg aus Schlesien. Eigentlich wollte er Kinderarzt werden, doch seine erste Stelle nach seiner Approbation in Freiburg erhielt er in Breslau bei dem international renommierten Neurologen und Neurochirurgen Otfrid Foerster. Foerster war ein Pionier der Lokalisationsforschung und Begründer der modernen Neurochirurgie – eine Art Titan in seiner Disziplin, insgesamt siebzehnmal für den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin nominiert. Ludwig Guttmann wechselte zwar 1928 als Oberarzt nach Hamburg, kehrte aber schon 1929 zurück zu Foerster, mit dem er sich sehr gut verstand. Vielleicht wäre er dessen Nachfolger als Klinikleiter geworden, aber ab der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 brach eine neue, brutale Wirklichkeit herein.

Jüdische Ärzte durften nun keine arischen Patientinnen und Patienten mehr behandeln. Ludwig Guttmann war Jude. Ihm wurde gekündigt, er musste das Krankenhaus verlassen. Sein Chef Foerster intervenierte zwar und setzte sich für Guttmann ein, aber nicht ganz konsequent: Er bat Guttmann, eine befristete Weiterbeschäftigung anzunehmen, bis ein (laut NSDAP) »geeigneter arischer Nachfolger« gefunden sei – was Guttmann empört ablehnte.

60 Menschen vor dem KZ gerettet

Ludwig Guttmann hoffte noch, die Nazi-Herrschaft sei ein Spuk, der rasch vorbeigeht. Er wechselte die Klinik, blieb aber in der Stadt: Er übernahm in Breslau die Leitung des Israelitischen Krankenhauses. Mittlerweile hatte er mit seiner Frau Else einen kleinen Sohn, Dennis. Fünf Jahre später dann die Novemberpogrome 1938. Er ordnete an, alle Schutzbedürftigen in sein Krankenhaus aufzunehmen und mit teils erfundenen Diagnosen und Krankenakten zu versehen. So konnte er etwa sechzig Menschen vor dem Transport in ein Konzentrationslager retten, musste sich aber vor der Gestapo verantworten und fasste den Entschluss, Deutschland zu verlassen.

Er hatte bereits einige Jahre zuvor Angebote aus dem Ausland erhalten. Nun, 1939, verhalf das Council for Assisting Refugee Academics der Familie zur Flucht. Sie waren mittlerweile zu viert: 1935 war Tochter Eva auf die Welt gekommen. Guttmann wurde in Oxford untergebracht, in der Abteilung für Neurochirurgie am Radcliffe Infirmary, einem 1770 eröffneten Krankenhaus.

Da Guttmanns Qualifikation als Arzt in Großbritannien zunächst nicht anerkannt wurde, musste er als wissenschaftlicher Mitarbeiter beginnen. Er befasste sich am Radcliffe Infirmary vor allem mit Verletzungen des Rückenmarks und testete mögliche Behandlungen an Tieren. Das weckte das Interesse der britischen Regierung, die im Rahmen der geplanten Invasion der Alliierten in der Normandie Vorsorge treffen wollte für die Versorgung verletzter Soldaten. Ein Militärlazarett in der Handelsstadt Aylesbury, einst Heimat von Nestlé, wurde zum Krankenhaus für Rückenmarksgeschädigte umgebaut. 1943 wurde Ludwig Guttmann im Stoke-Mandeville-Hospital zum Leiter der Abteilung für Rückenmarksverletzte ernannt. Und für diese Patienten änderte er alles.

Die Überlebensrate deutlich gesteigert

Bis dahin galt die Grundregel, Menschen mit Rückenmarksverletzungen nicht zu bewegen. Eine Behandlung galt als aussichtslos, viele hatten nur eine geringe Lebenserwartung, im Durchschnitt lag sie bei zwei bis drei Jahren. Guttmann erkannte die Ursachen: Aufsteigende Infektionen der Harnwege und infizierte Druckgeschwüre führten teils innerhalb weniger Wochen zum Tod. Guttmann schaffte die Gipsbetten ab und ersetzte die gusseisernen Bettpfannen durch Varianten aus Gummi, um Druckgeschwüre zu vermeiden. Er ordnete an, keine Bauchdeckenkatheter mehr zu legen und die Patienten alle zwei Stunden zu wenden. Die Patienten waren ihm dankbar – diese ehemaligen britischen Soldaten, die im Kampf gegen Nazi-Deutschland schwer verletzt worden waren und ausgerechnet von einem Deutschen behandelt wurden. Eva Löffler, Guttmanns Tochter, erinnerte sich später, dass sie ihren Vater anfangs herablassend ›The Kraut‹ nannten, nach wenigen Wochen aber dann ›Poppa‹: »Sie haben ihn geliebt.« Die Kooperation seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jedoch musste sich Guttmann hart erarbeiten. Er soll sehr streng gewesen sein und nicht nur tagsüber, sondern auch nachts kontrolliert haben, ob seine Anweisungen umgesetzt wurden.

Die gelähmten Soldaten erhielten Krankengymnastik und Ergotherapie für mehr Beweglichkeit und gezieltes Muskeltraining. Bogenschießen wurde ebenso wie Basketball im Rollstuhl ausgetragen, bis hin zum Rollstuhl-Polo. Guttmann konnte die Vorteile der sportlichen Betätigung wissenschaftlich nachweisen und die langfristige Überlebensrate auf mehr als 90% steigern. Und er sah, mit welcher Energie die Verletzten trainierten. So kam ihm eine Idee: 1948, als in London die ersten Olympischen Spiele nach den Zweiten Weltkrieg stattfanden, organisierte er in seiner Klinik die sogenannten Stoke-Mandeville Games – und zwar exakt am Tag der Eröffnungsfeier. 16 Teilnehmer gab es damals, darunter zwei Frauen, aber nur eine Disziplin: Bogenschießen. Ein Jahr später waren es schon sechzig Teilnehmende aus fünf verschiedenen Krankenhäusern. Im Jahr 1952 kam ein Sportlerteam aus den Niederlanden dazu und machte den Wettbewerb international.

Von der Queen zum Ritter geschlagen

1960 dann fanden die Stoke-Mandeville Games erstmals am Austragungsort der Olympischen Spiele statt – mit über 400 gelähmten Athleten aus 23 Ländern. Sie traten im Bogenschießen, Basketball, Schwimmen, Fechten, Speerwurf, Kugelstoßen, Weitwurf, Tischtennis, Fünfkampf und Snooker gegeneinander an. Für Ludwig Guttmann ging damit ein Traum in Erfüllung.

1966 wurde er für seine Verdienste von Queen Elisabeth zum Ritter geschlagen. 1950 hatte er bereits den Orden des Britischen Empire erhalten und 1960 eine Audienz beim Papst. Auf eine Ehrung aus Deutschland musste er länger warten: 1972 erhielt er das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland, 2014 wurde er in die Hall of Fame der Deutschen Sporthilfe aufgenommen. In Deutschland unterstützte er den Aufbau des ersten Zentrums für Querschnitt- und Rückenmarkverletzte.

Es ist eigentlich erstaunlich, dass es so lange dauerte, bis gelähmte Menschen sportlich aktiv werden konnten. Denn der Rollstuhl wurde bereits im Jahr 1655 erfunden, von Stefan Farfler, einem Nürnberger Uhrmacher, der selbst gelähmt war. Das Gefährt war ausgestattet mit einer Handkurbel und einem Zahnradgetriebe. Und schon im 16. Jahrhundert wurde der von Gicht geplagte König Philipp von Spanien in einem Stuhl mit Rollen herumgefahren.

Der Begriff ›Paralympics‹ wurde übrigens erst 1988 in Seoul offiziell eingeführt. Vorher sprach man von ›Weltspielen der Gelähmten‹ oder ›der Behinderten‹. Die Wortschöpfung Paralympics leitete sich zunächst von ›paraplegic‹ ab, dem englischen Wort für querschnittsgelähmt. Da seit 1976 nicht nur Querschnittgelähmte teilnehmen, sondern auch Athleten mit Amputationen, Sehbehinderungen und anderen Beeinträchtigungen, wurde ›para‹ vom Lateinischen und Griechischen abgeleitet, was ›neben‹ oder ›sich anschließen‹ bedeutet.

Für viele behinderte Menschen ist Ludwig Guttmann ein Held. Der Sport trug enorm dazu bei, Menschen mit Behinderung positiver wahrzunehmen und zu integrieren. Der Arzt, der die Paralympics erfand, erlebte den ganz großen Erfolg seiner Spiele nicht mehr. Er starb 1980 mit achtzig Jahren in Aylesbury an den Folgen eines Herzinfarktes. Seine Eltern, die eine Spirituosenfabrik betrieben hatten, und auch seine drei Schwestern wurden in Auschwitz ermordet.

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