Ein Revoluzzer für die moderne Medizin

Von Tanja Wolf Lesezeit 4 Minuten
Rudolf Virchow bei einer Operation mit zahlreichen Männern, die zuschauen

Rudolf Virchow prägte das 19. Jahrhundert in Pathologie, Politik und Public Health.

Die Pathologie erinnert immer ein bisschen an Fernseh-Krimis. Und damit ist man direkt im Missverständnis. Denn für Todesfälle mit vermuteter nicht natürlicher Ursache oder für Opfer von Gewaltverbrechen sind Rechtsmediziner oder Forensikerinnen zuständig. Die Pathologie dagegen beschäftigt sich vor allem mit dem Gewebe lebendiger Patientinnen und Patienten – jedenfalls heutzutage. In der Mitte des 19. Jahrhunderts, vor rund 175 Jahren, war das noch anders. Kranke starben meist schnell, Gewebeproben von lebenden Patienten waren selten. Vom Inneren des Körpers wusste man nicht viel, obwohl der Begriff der Pathologie da schon rund 1800 Jahre alt war. Er bedeutet ›Lehre von den Leiden‹.

Sein Ehrgeiz und sein Wissensdurst sollten die Medizin verändern.

Dann kam Rudolf Virchow, 18 Jahre alt, 1839 aus der Provinz nach Berlin und saß frustriert in der Medizin-Vorlesung. Dort wurde überliefertes Wissen diktiert, nicht Neues geschaffen. Virchow aber wollte Versuche machen, Ergebnisse herleiten – physikalisch, chemisch oder biologisch. Sein Ehrgeiz und sein Wissensdurst sollten die Medizin verändern. Es war die Schwelle zu einer neuen Zeit – nicht nur medizinisch. Dass er dabei eine Rolle spielte, war nicht selbstverständlich.

Mittels Stipendium nach Berlin

Rudolf Virchow war begabt, aber sein Vater war ein einfacher Kaufmann und hätte ihm kein Studium finanzieren können. Die Wissbegier und der Fleiß des jungen Rudolf fielen schon in seiner Heimat Schivelbein in Hinterpommern auf. Er kam aufs Gymnasium in Köslin und erhielt nach dem Abitur ein Stipendium für ein Medizinstudium in Berlin, an der berühmten militärärztlichen Akademie ›Pépinière‹, die seit 1818 ›Medizinisch-Chirurgisches Friedrich-Wilhelms-Institut‹ hieß. 1843 promovierte er und wurde Unterarzt an der Charité, kurz darauf Assistent des dortigen Leiters der Pathologischen Abteilung. Schon 1845 hielt er erste öffentliche Vorträge an der Pépinière und Privatvorlesungen. So kam es auch, dass er 1845, zum fünfzigsten Geburtstag des Friedrich-Wilhelm-Instituts, eine Rede halten durfte. Sie ist bis heute berühmt. Er, der junge Absolvent der Akademie, geboren am 13.Oktober 1821, wischte altes Wissen mit einem Federstrich weg und erklärte den Honoratioren im Saal: »Die Medizin von 1795 existiert nicht mehr.« Sie müsse ganz anders ausgeübt werden, nämlich als angewandte Naturwissenschaft. Jede Forschung müsse auf drei Säulen ruhen. Erstens: Klinische Beobachtung, unterstützt durch chemische und physikalische Methoden. Zweitens: Tierexperimente zur Erforschung der Krankheitsursachen. Und drittens: Pathologische Anatomie unter dem Mikroskop.

Am Mikroskop und auf den Barrikaden

Es war ohnehin eine Zeit der Umbrüche: Mit dem Beginn des Jahres 1848 breiteten sich revolutionäre Unruhen in Europa aus. Immer mehr Menschen forderten eine freiheitliche Verfassung, Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, ein Ende der Feudalherrschaft, ein allgemeines und freies Wahlrecht und einen Nationalstaat. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. stand stark unter Druck. Zusätzliche Kritik konnte er nicht brauchen, doch in Oberschlesien wütete seit Monaten eine Typhusseuche, und Gerüchte über ein Versagen der Regierung machten die Runde. Also schickte die Regierung eine Kommission hin, nicht nur mit braven Bürokraten, sondern gezielt auch mit Virchow als kritischem Geist. Er fand Elend, völlige Armut, verwahrloste und hungernde Menschen. Sein Bericht umfasste fast 200 Seiten und der Inhalt gefiel dem König sicher nicht: Medizin allein reiche nicht, sondern es brauche bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen für die ärmeren Menschen, so Virchow. Die »Frucht des Schweißes« dürfe nicht immer »nur in die Säckel der Grundherrschaft fallen«.

Medizin allein reiche nicht, sondern es brauche bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen für die ärmeren Menschen

Als im März 1848 die Revolution in Berlin ausbrach, ging auch Virchow auf die Barrikaden. Doch die Erfolge der Proteste hielten bekanntlich nicht lange, nach ersten Zugeständnissen konnte der König 1849 das Rad der Geschichte wieder zurückdrehen. Damit war Virchow an der militärärztlichen Akademie nicht mehr haltbar. Er verlor seine Stelle. Gegen eine schriftliche Versicherung, auf radikal-politische Tätigkeiten zu verzichten, erhielt er einen Lehrstuhl für pathologische Anatomie in Würzburg. Seiner Karriere schadete das nicht. Im Gegenteil: In Würzburg formulierte er 1855 den zentralen Lehrsatz seiner Zellenlehre: »Omnis cellula a cellula« – jede Zelle entsteht aus einer Zelle. Mit der Entdeckung, dass Krankheiten auf einer Störung der Körperzellen und ihrer Funktionen beruhen, schuf Rudolf Virchow die Grundlagen der modernen Pathologie. Er wies nach, dass Muskeln, Knochen und Gewebe aus Zellen bestehen. Damit endete die alte Theorie von den Säften als Krankheitsursache. Basis waren seine Gewebeproben aus der Pathologie. Rudolf Virchow definierte die Zelle als letzte, nicht mehr reduzierbare Lebensform.

Politiker, Parlamentarier und Stadthygieniker

1856 kehrte er zurück nach Berlin, verheiratet und bessergestellt als zuvor. Er wurde Direktor eines neu geschaffenen Pathologischen Instituts in der Charité und erhielt einen neuen Lehrstuhl für Pathologische Anatomie und Physiologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität, der heutigen Humboldt-Universität. Außerdem ging er in die Politik, und auch dort war er erfolgreich. 1859 wurde er in die Berliner Stadtverordneten-Versammlung gewählt und blieb dort mehr als vierzig Jahre lang aktiv, bis zu seinem Tod. Er setzte sich für den Bau von Krankenhäusern, die Erhebung medizinischer Daten und zentrale Schlachthöfe ein. Auf seine Initiative erhielt Berlin als eine der ersten europäischen Großstädte eine Kanalisation mit zentraler Wasserver- und -entsorgung. Er übertrug sozusagen die medizinische Lehre von den Zellen auf das Gemeinwesen: »Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.« Heute würde man sagen: Public Health.

Aber die Stadtpolitik reichte ihm dabei nicht. 1861 gründete er zusammen mit Theodor Mommsen und anderen die liberale ›Deutsche Fortschrittspartei‹ und wurde 1862 ins Preußische Abgeordnetenhaus gewählt. Er forderte weniger Ausgaben für Militär und mehr Geld für öffentliche Infrastruktur. Seine scharfe Zunge war gefürchtet, und er geriet mehrfach mit dem mächtigsten Konservativen aneinander – mit Reichskanzler Otto von Bismarck. Nach einem heftigen Schlagabtausch forderte der Kanzler Virchow 1865 zum Duell, was dieser irritiert ablehnte.

Die Toten lehren die Lebenden

Virchow war einer der berühmtesten Mediziner und einer der bekanntesten Politiker des 19. Jahrhunderts. Er war Gründer und Herausgeber der angesehenen Fachzeitschrift Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für die klinische Medizin und trug mehr als 23000 Präparate zusammen. Als Privatdozent befasste Virchow sich mit Venenentzündungen und prägte die Begriffe Embolie, Thrombose und Leukämie. Die drei Faktoren der ThromboseEntstehung werden auch heute noch als ›VirchowTrias‹ bezeichnet. Die Toten lehren die Lebenden, das war sein Motto. Die von ihm 1897 gegründete und 1948 umbenannte Deutsche Pathologische Gesellschaft vergibt wie damals weiterhin den Rudolf-Virchow-Preis an Nachwuchswissenschaftler und die Rudolf-Virchow-Medaille an Pathologen für ihr Lebenswerk.

Virchow hatte sechs Kinder. Sein Sohn Hans (1852–1940) trat in diese großen Fußstapfen und wurde Prosektor und Professor am Institut für Anatomie der Universität Berlin. Am 5. September 1902 starb Rudolf Virchow an den Folgen eines Sturzes. Im Januar war er, achtzigjährig, aus einer fahrenden Straßenbahn gesprungen und hatte sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen.

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