Heimliche Forschung im Schlafzimmer

Von Tanja Wolf Lesezeit 4 Minuten
Heimliche Forschung im Schlafzimmer

Kleine Dame mit Grandezza: Rita Levi-Montalcini, geboren am 22. April 1909, holte 1986 den ersten Medizin-Nobelpreis nach Italien für die Entdeckung, warum Nerven wachsen.

Sie hat viele Widerstände überwunden: Einen patriarchalischen Vater, der für seine Töchter klassische Frauenrollen vorgesehen hatte, ein Betretungsverbot der Universität, nachdem sie sich gerade ein Studium erkämpft hatte, improvisierte Forschung mit Hühnereiern im Schlafzimmer statt im Labor, und immer wieder die Flucht vor den Faschisten. Als Jüdin im Zweiten Weltkrieg begann sie ihre Karriere in Gefahr, heißt es auf der Webseite des Nobelpreises, und vollendete sie im Triumph. Sie selbst sagte später: »Wäre ich nicht diskriminiert worden oder hätte ich nicht unter Verfolgung gelitten, hätte ich nie den Nobelpreis erhalten.«

Wer weiß – die Gegenprobe lässt sich nicht durchführen. Aber ganz offensichtlich hat Rita Levi-Montalcini diese Lebenshindernisse als Ansporn gesehen. Als sie im Jahr 2008 der Nobelpreis Webseite ein Interview gab, war sie bereits eine Legende. Beeindruckende hundert Jahre alt, erzählt sie auf Englisch ihre Lebensgeschichte – mit einem starken italienischen Akzent und etwas schwerer Zunge, aber mit glasklarem Verstand. Eine echte Lady, stets perfekt frisiert und elegant gekleidet. Und vor allem nicht zu unterschätzen. Sie trotzte dem Terror der Nationalsozialisten und setzte sich in einer Männerdomäne durch.

Woher wissen Nervenzellen, wann sie wachsen müssen?

Sie war die erste Nobelpreisträgerin, die über hundert Jahre alt wurde – eigentlich unwichtig, aber doch passend. Denn Rita Levi-Montalcini befasste sich mit einer Frage, die entscheidend für das Leben an sich ist: Woher wissen Nervenzellen, wann sie wachsen müssen und wofür sie gebraucht werden? Sie war überzeugt, dass das Nervensystem nicht statisch ist, sondern sich dynamisch entwickelt. Mit Mitte vierzig fand sie die Antwort, und von diesem Augenblick an war sie überzeugt, dass der Kopf keinesfalls nachlassen muss im Alter, dass das Gedächtnis im Gegenteil sogar ausbaufähig bleibt. Das demonstrierte sie öffentlichkeitswirksam: Den von ihr entdeckten Nervenwachstumsfaktor NGF träufelte sie sich täglich als selbst entwickelte Tropfen in die Augen. Eine klare Kausalität ist dabei nicht anzunehmen, auch wenn Rita Levi-Montalcini noch mit hundert Jahren ins Labor ging.

Dabei hatten die Faschisten für sie keine Karriere vorgesehen. Denn Rita Levi-Montalcini war Jüdin, geprägt von einer wohlhabenden, gebildeten und liebevollen Familie, Vater Ingenieur, Mutter Malerin. Sie war gerade in ihr selbst erkämpftes, selbstbestimmtes Leben gestartet, hatte ihren Vater überzeugt, sie Medizin studieren zu lassen, hatte innerhalb von acht Monaten den Schulstoff von Jahren nachgeholt, in Griechisch, Latein und Mathematik, und sich an der Universität Turin für Medizin eingeschrieben. 1936 schloss sie ihr Studium ab, mit Bestnote. Ärztin wollte sie da allerdings schon nicht mehr werden. Es zog sie in die Forschung zur Neurobiologie. Giuseppe Levi, ein Pionier für In-vitro-Studien von Zellkulturen und Professor für Anatomie in Turin, hatte sie dazu inspiriert. Doch am 17. November 1938 endete der Anfang ihrer Karriere. Mussolini erließ das Gesetz zum ›Schutz der italienischen Rasse‹. Juden wurden sofort aus Streitkräften, Verwaltung, Banken und Universitäten ausgeschlossen. Anders als im deutschen NS-Staat gab es bis zum Einmarsch der Wehrmacht in Italien aber keine Verfolgung und keine Vernichtungslager.

Sie machte das Schlafzimmer zum Labor

Rita entschied sich, an das Neurologische Institut in Brüssel zu gehen. Bis 1940 blieb sie dort. Doch am 10. Mai ließ Adolf Hitler das neutrale Land überfallen, und die belgische Armee kapitulierte nur 18 Tage später. Damit wurde es zu gefährlich. Sie kehrte nach Italien zurück und versteckte sich mit ihrer Familie in Turin. Rita Levi-Montalcini war das jüngste von vier Kindern von Adamo Levi und Adele Montalcini, sie hatte einen Bruder, eine Schwester und eine Zwillingsschwester. Die Familie wechselte mehrfach den Unterschlupf im Laufe der Zeit, lebte mal auf dem Land auf einem Bauernhof, später in Florenz.

Rita Levi-Montalcini wollte trotzdem weiter forschen. Das erforderte Improvisation: Sie machte ihr Schlafzimmer zum Labor. Was sie brauchte, waren Hühnereier, ein Inkubator, ein Skalpell. Die Eier waren relativ leicht zu bekommen, der Inkubator aber musste aus einem Kocher gebaut werden und als Skalpelle nutzte sie scharf geschliffene Nähnadeln. Aus einer Arztpraxis hatte sie eine sehr kleine Schere, von einem Uhrmacher winzige Pinzetten. So untersuchte sie, wie Hühner im Embryo-Stadium ihre Extremitäten ausbilden und welche Rolle die Nerven dabei spielen. Ihre Bedingungen seien so ähnlich wie bei Robinson Crusoe gewesen, sagte sie später.

Mir half die wohlbekannte Eigenschaft des Menschen, die Realität zu leugnen. Ohne diesen eingebauten Mechanismus der Selbstverteidigung wäre dieses Leben nicht erträglich.

Immerhin: Die ganze Familie überlebte. Nach dem Krieg arbeitete Rita Levi-Montalcini kurze Zeit als Ärztin in einem Flüchtlingslager, dann kehrte sie an die Universität in Turin zurück – als Assistentin des charismatischen Lehrers Giuseppe Levi. Die Namensgleichheit war Zufall – sie waren weder verwandt noch verheiratet.

Ruf aus Amerika

Auch in den USA befasste sich ein Wissenschaftler mit Nervenzellen und Hühnerembryonen: Viktor Hamburger von der zoologischen Abteilung der Washington University in St.Louis hatte einen deutlichen Rückgang der Nerven beobachtet, nachdem er einem Embryo einen Flügel amputiert hatte. Der berühmte emigrierte deutsche Zellforscher schickte Giuseppe Levi im Herbst 1947 einen Brief: »Ich weiß, dass es eine junge Frau bei Ihnen gibt, die sich mit demselben Problem beschäftigt, an dem ich schon seit 1934 arbeite. Kann sie nicht für ein paar Wochen oder Monate zu mir kommen?« Sie wollte – und blieb nicht Wochen, sondern Jahre. »Das war ein schöner Brief, ich besitze ihn noch heute«, sagte Levi-Montalcini Jahrzehnte später im Interview.

1950 machten sie die entscheidende Entdeckung, dass nach der Transplantation eines Mäuse-Tumors in einen Hühnerembryo Nervenzellen in den Tumor hineinwuchsen. Levi-Montalcini konnte den Versuch erfolgreich reproduzieren und sah ihre These bestätigt, dass das Wachstum der Nervenzellen nicht durch eine direkte Verbindung zwischen den Tumor und den Nervenzellen ausgelöst wird, sondern durch ein chemisches Signal. Es reichen schon kleinste Mengen in einer Kultur von Nervenzellen und eine gemeinsame Blutversorgung, und schon sprießen nach wenigen Minuten Nervenfasern. 1953 isolierte Levi-Montalcini dann an der Washington University gemeinsam mit ihrem Kollegen Stanley Cohen den dafür verantwortlichen Stoff: den Nervenwachstumsfaktor, ein Protein aus zwei identischen Ketten zu je 118 Aminosäuren. Levi-Montalcini gab dem Signalstoff den Namen ›nerve growthpromoting factor‹, kurz NGF.

Das Preisgeld spendete sie

Dreissig Jahre blieb sie in den USA, von 1958 bis 1977 als Professorin. Allerdings brachte sie es nicht übers Herz, Italien so lange fernzubleiben. Ab den 1960er Jahren baute sie eine Arbeitsgruppe in Rom auf und leitete das Laboratorium für Zellbiologie des Nationalen Forschungsrates. Als sie 1986 zusammen mit Stanley Cohen den Nobelpreis erhielt, war sie bereits 77. Das üppige Preisgeld spendete sie für die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in ihrem Spezialgebiet. Ihr Leben werde dieser Preis nicht mehr verändern, sagte sie. Sie gründete das Europäische Hirnforschungsinstitut und eine Stiftung für mehr Bildung für Frauen in Afrika. 2001 wurde sie Senatorin auf Lebenszeit. Heute weiß man, dass NGF auch bei psychischen Krankheiten wie Schizophrenie und Depressionen eine Rolle spielt, ebenso bei Demenz, Diabetes und beim Grünen Star. Geheiratet hat sie übrigens nie. Nach dem Tod ihrer Mutter wohnte sie mit ihrer Zwillingsschwester zusammen. Am 30. Dezember 2012 starb Rita Levi-Montalcini in Rom. Der von ihr entdeckte Nervenwachstumsfaktor macht nicht unsterblich. Aber ein Nobelpreis schon.

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