Hilfsmittel sollen Menschen das Leben erleichtern, wenn es durch eine Erkrankung oder Behinderung eingeschränkt ist oder eine solche Einschränkung droht.
Am 24. Juli 2024, dem Tag, an dem Kevin Piette Geschichte schreibt, ist der Himmel über Paris bewölkt. Piette ist seit einem Motorradunfall vor elf Jahren querschnittsgelähmt. Doch nun läuft der Athlet durch die Straßen, an einer jubelnden Menschenmenge vorbei, und trägt die Fackel mit dem olympischen Feuer. Dass das möglich ist, verdankt Piette einem computergesteuerten Gehapparat, einem sogenannten Exoskelett.
Nicht alle Hilfsmittel sind so spektakulär wie dieses. Als Teilbereich der Medizinprodukte sind Hilfsmittel in erster Linie Produkte, die Menschen mit sehr unterschiedlichen gesundheitlichen Einschränkungen dabei helfen, im Alltag besser zurechtzukommen. Dazu gehören Verbrauchsartikel wie Spritzen oder Inkontinenzartikel, Hilfsmittel wie Duschhocker, Kompressionsstrümpfe, Rollstühle oder Inhalationsgeräte, aber auch hochtechnisierte Produkte: Beatmungsgeräte, Insulinpumpentherapiesysteme, Speiseroboter, die allein lebende Menschen bei den Mahlzeiten unterstützen, per Augenbewegung steuerbare Sprachcomputer oder Armprothesen, die der Nutzer per Gedankenkraft über Nervensignale bewegen kann.
Hilfsmittelverzeichnis als Fundus
In dieser Fülle den Überblick zu behalten ist nicht leicht. Eine gute Orientierungshilfe ist das Hilfsmittelund Pflegehilfsmittelverzeichnis, das der GKV-Spitzenverband führt, regelmäßig aktualisiert und fortschreibt. Dabei unterstützt ihn die ›Kompetenzeinheit Hilfsmittelverzeichnis‹ der Gemeinschaft der Medizinischen Dienste. Hersteller müssen die Aufnahme ihrer Produkte in das Hilfsmittelverzeichnis beantragen und dafür bestimmte Qualitätsanforderungen erfüllen. Auch an der Definition dieser Anforderungen arbeitet die Kompetenzeinheit Hilfsmittelverzeichnis mit. Darüber hinaus berät der Medizinische Dienst Bund den GKVSpitzenverband auch zu Fragen der Versorgungsqualität bei Hilfsmitteln.
Alle Hilfsmittel, die in diesem Verzeichnis aufgeführt sind, fallen grundsätzlich unter die Leistungspflicht der gesetzlichen Kranken- beziehungsweise der sozialen Pflegeversicherung. Doch auch solche, die hier nicht gelistet sind, können verordnet werden, wenn eine medizinische Notwendigkeit vorliegt.
Die Auswahl der Hilfsmittel wird immer größer: Allein in den vergangenen fünf Jahren sind 17 703 neue Produkte in das Verzeichnis aufgenommen worden, insgesamt umfasst es nun mehr als 44000. Auch die Ausgaben für Hilfsmittel steigen seit Jahren. Im September 2023 teilte der GKV-Spitzenverband mit, dass die GKV-Ausgaben für Hilfsmittel innerhalb von 15 Jahren um 81% auf fast 10,4 Milliarden Euro gestiegen seien. Der Versorgungsbedarf ist offenbar hoch.
Die Versorgung wird immer besser
Die Gründe für den enormen Zuwachs sind vielschichtig. Einer davon ist der rasante medizintechnische Fortschritt, der zu immer neuen, zum Teil hochspezialisierten Produkten führt. Außerdem wächst die Zahl älterer Menschen, die besonders häufig Hilfsmittel benötigen. Laut dem Hilfsmittelreport 2023 der Barmer entfällt etwa die Hälfte der Hilfsmittelausgaben auf die Altersgruppe der über 65-Jährigen. Aber wie kommen die Menschen überhaupt an Hilfsmittel? Laut §33 des SGB V haben gesetzlich Versicherte Anspruch auf eine Versorgung mit Hilfsmitteln, »die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen«. Ist das der Fall, stellt die gesetzliche Krankenversicherung das Hilfsmittel leihweise zur Verfügung oder übernimmt die Kosten. Dazu gehören, soweit notwendig, auch eine individuelle Anpassung oder eine Schulung für den Gebrauch des Hilfsmittels sowie die Wartung und die Übernahme etwaiger Betriebskosten, etwa die Stromkosten für ein Beatmungsgerät. Pflegebedürftige haben Anspruch auf eine Versorgung mit Pflegehilfsmitteln, die die Pflege erleichtern, Beschwerden lindern oder ein selbstständigeres Leben ermöglichen. Es gibt Hilfsmittel, die wegen einer Behinderung benötigt werden, gleichzeitig aber auch Pflegehilfsmittel sein können. In diesen Fällen wird bei Antragstellung geprüft, ob die Krankenoder die Pflegekasse zuständig ist.
Bei medizinisch notwendigen Hilfsmitteln gibt es keine generelle Verordnungspflicht, doch ist in vielen Fällen eine Verordnung die Voraussetzung für die Kostenübernahme durch die Krankenkasse. Etwa zwei Drittel aller Hilfsmittelverordnungen werden dem Barmer Hilfsmittelreport 2023 zufolge von hausärztlichen Praxen und von Krankenhäusern im Rahmen des Entlassmanagements ausgestellt. Welche Regeln dabei gelten, ist in der Hilfsmittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) festgelegt.
Aufgaben des Medizinischen Dienstes
In der Regel muss ein Hilfsmittel vorab durch die Krankenkasse genehmigt werden. Vor allem, wenn es um eine besonders komplexe oder aufwendige Versorgung geht, beispielsweise eine Armprothese oder einen Elektrorollstuhl, können die Krankenkassen den Medizinischen Dienst mit einer Begutachtung beauftragen. Dabei wird geprüft, ob das entsprechende Hilfsmittel im jeweiligen Fall medizinisch notwendig, geeignet und wirtschaftlich ist, um die Versorgung des Versicherten zu unterstützen. Im Vordergrund steht dabei, dass das jeweilige Hilfsmittel – ob Standard-Rollator oder Hightech-Prothese – auf die individuellen Bedürfnisse der jeweiligen Antragstellenden abgestimmt ist, sie bestmöglich unterstützt und ihre Lebensqualität verbessert.
Auf der Grundlage des Gutachtens entscheidet die Kasse dann über die Bewilligung. Jedoch beauftragen die Krankenkassen den Medizinischen Dienst eher selten. Im Jahr 2023 erstellten die Gutachterinnen und Gutachter des Medizinischen Dienstes 238000 Stellungnahmen – das entspricht lediglich 0,8% der insgesamt 29 905000 Hilfsmittelverordnungen. Dabei waren in 61,5% der Fälle die (sozial)medizinischen Voraussetzungen für eine Leistung der Krankenkasse ganz oder zum Teil erfüllt.
Vier Fünftel der Hilfsmittel ohne Mehrkosten erhältlich
Um die Hilfsmittelversorgung bundesweit sicherzustellen, sind die Krankenkassen verpflichtet, mit einer ausreichenden Zahl unterschiedlicher Leistungserbringender entsprechende Verträge abzuschließen. Wenn die Versicherten ein Hilfsmittel benötigen, können sie sich an die Vertragspartner ihrer jeweiligen Krankenkasse wenden. Die Krankenkasse übernimmt dann die vertraglich vereinbarten Preise. Versicherte über 18 Jahren müssen für jedes medizinisch notwendige Hilfsmittel eine Zuzahlung leisten. Entscheiden sie sich für Hilfsmittel oder zusätzliche Leistungen, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen, müssen sie die Mehrkosten selbst tragen. Etwa vier Fünftel der Hilfsmittel werden ohne Mehrkosten abgegeben. Das geht aus dem Sechsten Mehrkostenbericht des GKV-Spitzenverbandes hervor.
Die Aufsichtsbehörde der bundesweiten Krankenkassen, das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS), veröffentlichte 2022 einen ›Sonderbericht über die Qualität der Hilfsmittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung‹, in dem es unter anderem Qualitätsmängel in der Beratung der Versicherten kritisierte: Das Zusammenspiel von Sanitätshaus, Ärztin oder Arzt und Krankenkasse sei oft undurchsichtig und unklar. Das BAS monierte auch, dass viele Krankenkassen die Qualität der Versorgung nur unzureichend prüften. Außerdem hätten nicht alle Krankenkassen eine ausreichende Zahl von Verträgen mit Hilfsmittelleistungserbringern abgeschlossen. Auf diesem Gebiet seien aber Fortschritte zu verzeichnen, konstatierte das BAS in seinem Tätigkeitsbericht 2023. Kevin Piette, dem olympischen Fackelträger im Exoskelett, hat sein futuristisch anmutendes Hilfsmittel einen unvergesslichen Tag beschert. In einem Interview sagte der sportbegeisterte Franzose: »Ich bin unglaublich stolz, dass ich dabei sein konnte. Das war einfach cool.«