Im Jahr 1924 machte Hans Berger erstmals Gehirnströme sichtbar. Was heute normal ist, war damals eine Sensation. Aber der Psychiater und Neurologe hinterlässt auch ein zwiespältiges Erbe.
Signale aus dem Gehirn sichtbar zu machen, ist ein lang gehegter medizinischer Traum. Welche Verheißung, sozusagen Gedanken lesen zu können. Letzteres ist – zum Glück – weiterhin nicht möglich. Aber die Aktivität des Gehirns, die lässt sich abbilden, und zwar in Wellen. Es war der Psychologe und Neurologe Hans Heinrich Wilhelm Ernst Berger, dem es am 6. Juli 1924 gelang, das erste Elektroenzephalogramm, kurz EEG, aufzuzeichnen. Die Sensation blieb der Welt aber zunächst verborgen, denn Hans Berger war von Zweifeln geplagt und ließ die Entdeckung nur registrieren. Publiziert hat er sie erst 1929 – unter dem Titel »Über das Elektrenkephalogramm des Menschen«.
Berger hatte die Idee eigenständig entwickelt, manche nennen ihn einen Einzelkämpfer. Die Mehrheit der Neurologen verfolgte die Einzelaktivität der Nervenfasern, nicht einen Gesamtrhythmus des Gehirns. Man ging davon aus, dass das Gehirn bei einer Reizung starke punktuelle Entladungen produzierte, dass aber ohne Reizung Ruhe herrschte. Das EEG von Hans Berger zeigte etwas anderes, nämlich im Ruhezustand ein gleichmäßiges Erregungsmuster.
Von Alpha bis Delta
Was Berger gefunden hatte, nennt man heute Alpha-Wellen. Der Grundrhythmus erzeugt ein Bild von gleichmäßigen, wellenförmigen Linien. Frequenz: 8 bis 13 Hertz pro Sekunde, also 8 bis 13 Wellen pro Sekunde. Die EEG-Wellen werden in der Medizin in fünf Kategorien eingeteilt: Neben den Alpha-Wellen gibt es Beta-, Gamma-, Theta- und Delta-Wellen. Letztere sind die langsamsten, sie werden beim Tiefschlaf aufgezeichnet. Gamma-Wellen signalisieren erhöhte Aufmerksamkeit und liegen bei mehr als 30 Hertz. Knapp darunter rangieren die Beta-Wellen bei normaler geistiger Aktivität.
Seit nunmehr über 100 Jahren ist die Elektroenzephalografie eine wichtige Methode zur Abbildung der elektrischen Hirnaktivität. Das EEG wird verwendet, um Krankheiten zu diagnostizieren oder Hirntumore zu lokalisieren. Epileptische Anfälle etwa verursachen besonders steile Wellen. Das EEG blieb bis zur Erfindung der Computer- und Magnet-Resonanz-Tomografie die einzige Bildgebungsmethodik für das lebende Gehirn und ist weiterhin eines der wichtigsten Verfahren für die Diagnostik von Hirnerkrankungen. Bis heute ist es das entscheidende Werkzeug, um einen Hirntod festzustellen.
Ein Leben in Wellen
Das Leben des Mannes, der auf diesem Gebiet Medizingeschichte schrieb, endete tragisch und verlief fast in ähnlichen Wellen wie seine EEGs. Da ist zum einen der Umstand, dass Bergers Suche danach, Gehirnaktivitäten sichtbar zu machen, ursprünglich von einem eher mystischen Erlebnis getrieben war: Mit 19 Jahren war er bei einer militärischen Übung in Würzburg mit seinem Pferd gestürzt und unter das Rad eines Geschützwagens geraten. Er war überzeugt, nur knapp dem sicheren Tod entgangen zu sein. Am gleichen Abend erhielt er von seinem Vater ein Telegramm mit der für ihn außergewöhnlichen Nachfrage, wie es ihm gehe – veranlasst von seiner Schwester, die die Eingebung hatte, ihm sei ein Unglück zugestoßen. Für Berger war das »spontane Gedankenübertragung« und Telepathie zwischen sich als ›Sender‹ und seiner Schwester als ›Empfängerin‹.
Berger war zudem kein polyglotter Wissenschaftler, sondern blieb während seines kompletten Berufslebens in derselben Stadt und derselben Klinik – in der er 1941 Selbstmord beging. Vor allem aber wirft seine bereitwillige Mittäterschaft im Nationalsozialismus einen dunklen Schatten auf seine Leistung.
Geboren wurde Hans Berger am 21.Mai 1873 in Neuses bei Coburg. Schon sein Vater arbeitete als Arzt und war Direktor des Coburger Landeskrankenhauses. Hans Berger studierte zunächst Astronomie und Mathematik, doch nach einem einjährigen freiwilligen Militärdienst in Würzburg 1892 wechselte er zur Medizin. Bereits ein Semester später ging er nach Jena – und machte Karriere: 1897 Staatsexamen, kurz darauf Dissertation, seit Sommer 1896 Assistent an der renommierten dortigen Psychiatrischen Klinik. Habilitation im Juli 1901, Privatdozent, 1911 beamteter Oberarzt und 1919 ordentlicher Professor und Klinikdirektor. Später war er auch Dekan und Rektor der Jenaer Universität. Sogar privat blieb er im Klinik-Kosmos, denn er heiratete 1911 die Baroness Ursula von Bülow, die zuvor seine Assistentin war.
Erste Versuche während einer OP
Wie das Gehirn funktioniert, war damals eine große Frage der Wissenschaft. Berger erlernte in Jena neue grafische Methoden der Puls- und Volumenregistrierung und befasste sich in seiner Habilitation mit der Blutzirkulation in der Schädelhöhle. Stets suchte er nach psychischer Energie oder nach Wechselwirkungen zwischen Psyche und Physis, etwa in seiner Studie ›Über die körperlichen Äußerungen psychischer Zustände‹. Seine ersten Versuche, analog zum bereits eingeübten Elektrokardiogramm (EKG) Gehirnströme zu messen, machte Berger bei hirnchirurgischen Operationen. Er nutzte die Öffnung der Schädeldecke (sogenannte Trepanation), um Elektroden einzuführen, mit denen er von der Großhirnrinde elektrische Aktivität ableitete.
Stets suchte er nach psychischer Energie oder nach Wechselwirkungen zwischen Psyche und Physis.
Ein Brite half bei der Verbreitung
Bergers Entdeckung des EEGs gilt als bahnbrechend, fand aber viele Jahre keine Anwendung. Ein britischer Neurophysiologe und Nobelpreisträger änderte das: Edgar Douglas Adrian hatte 1932 für seine Arbeiten zur Erforschung der Funktion von Neuronen im Zentralnervensystem den Nobelpreis erhalten. Er stieß 1934 auf Bergers Veröffentlichung und erkannte die Bedeutung. Er gab dem Grundrhythmus der hirnelektrischen Tätigkeit beim Menschen den Namen Berger-Rhythmus. Das war der Durchbruch. Die Leopoldina ehrte Hans Berger 1937 für seine Entdeckung. Das EEG als Instrument der neurologischen Diagnostik verbreitete sich rasch und wurde international eingesetzt. Damit war er ein klarer Kandidat für den Nobelpreis.
Die dunkle Seite: Zwangssterilisationen
Doch Hans Berger stand den Nationalsozialisten und der auch international damals verbreiteten Eugenik nahe. Er war zwar kein Mitglied der NSDAP und wurde 1938, also vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, emeritiert. Aber er war förderndes Mitglied der SS und stellte seine Expertise freiwillig zur Verfügung. Ab September 1939 war er als beratender Psychiater in seinem Wehrkreis tätig. Als ärztlicher Beisitzer am Erbgesundheitsobergericht in Jena war er mitverantwortlich für zahlreiche Zwangssterilisationen. Als er im März 1941 gefragt wurde, ob er dort erneut tätig werden wolle, sagte Berger zu. Er sei »sehr gerne bereit, wieder als Beisitzer mitzuwirken«. Zu diesem Einsatz kam es nicht mehr. Berger litt unter Depressionen und erhängte sich am 1. Juni 1941 in der Medizinischen Klinik.
Späte Aufarbeitung
Die Uniklinik Jena hat sich erst spät mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ihres großen Neurologen auseinandergesetzt. Fazit der Untersuchung: Berger habe die Unantastbarkeit der Menschenwürde missachtet und die Kerninhalte des ärztlichen Gelöbnisses verletzt. Er habe Menschen großen Schaden zugefügt und das ärztliche Ethos verletzt. Aus diesem Grund wurde 2022 der Name ›Hans Berger-Klinik‹ für die Unikliniken für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Neurologie getilgt. Das Namensrelief ›Hans-Berger-Klinik‹ über dem Hauptportal des 2010 sanierten historischen Gebäudeensembles sowie die Gedenktafel für Hans Berger blieben dagegen erhalten. Damit solle die Widersprüchlichkeit von Berger für das »historische Gedächtnis von Stadt und Universität« sichtbar bleiben. Für die Opfer nationalsozialistischer Zwangssterilisationen gibt es seit 2022 eine Gedenktafel.
Eine große Chance, den Nobelpreis zu erhalten, hatte Berger ohnehin nicht. Der Preis wurde 1940 nicht vergeben, und posthum wird er nicht verliehen. Das EEG erlebt derzeit dank Big Data und KI sogar einen Boom. Man arbeitet daran, Epilepsien vorherzusagen. Und vielleicht wird man ja eines Tages wirklich Gedanken lesen können.