Nicht wenige Seniorinnen und Senioren sind nicht zufrieden mit der Qualität der Verpflegung im Pflegeheim. Ist das dem persönlichen Geschmack geschuldet oder ist die oft geäußerte Kritik berechtigt?
Immer mehr neue Kochbücher, Kochsendungen und Ratgeber: Die Frage, welches Essen fair, gesund und lecker ist, bewegt offenbar Millionen Menschen. Wie viel Wertschätzung für eine gute Ernährung kommt in den Pflegeheimen hierzulande an? Rund 11 500 vollstationäre Pflegeheime mit rund 918000 Plätzen zählte Anfang 2023 die amtliche Statistik der Bundesregierung. Und alle Bewohnerinnen und Bewohner haben Hunger, brauchen Nahrung und Nährstoffe. Dem Thema Ernährung kommt in den Pflegeeinrichtungen eine noch größere Bedeutung zu als in Privathaushalten, sagen Heimbetreiber unisono. Denn der gemeinschaftliche Genuss ist die wichtigste und mitunter einzige Gelegenheit für die Älteren und Pflegebedürftigen, miteinander in Kontakt zu kommen. Zudem strukturieren die Mahlzeiten den Tag. »Die Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner sind in vielerlei Hinsicht angewiesen auf das Angebot ihres Hauses«, sagt Ulrike Kempchen, Leiterin der Rechtsabteilung beim BIVA-Pflegeschutzbund. »Viele haben nur das Essen.« Umso sorgfältiger und gesünder soll es zubereitet werden.
Essen hält Leib und Seele zusammen
Klagen über das Essen sind der häufigste Beschwerdegrund, aus dem sich die Bewohner und ihre Angehörigen an den BIVA wenden, berichtet Kempchen. »Entweder ist das Essen in ihrer Einrichtung von schlechter Qualität, kalt und verkocht, oder es wurde aus Fertigprodukten wie Pressfleisch oder Tütensuppen hergestellt. Oder die Senioren beschweren sich über die Auswahl: tagelang die gleiche Wurst und das gleiche Brot.« Kempchen kritisiert, dass es offenbar sogar Küchenchefs in stark marktorientierten Einrichtungen gäbe, die finanzielle Anreize erhielten, wenn sie unter den Budgets für die Ernährung der Senioren bleiben. Dabei ist das Essen besonders in Pflegeeinrichtungen nicht nur Geschmackssache, sondern es trägt maßgeblich zu Wohlbefinden und Gesundheit bei. Tatsächlich kann zu wenig und zu ›schlechtes‹ Essen krank machen. »Eine unserer Klientinnen klagt gegen den Träger ihres Heims wegen ärztlich festgestellter Unterernährung. Sie hatte schlechte Blutwerte, die ihr Arzt auf Nährstoffmangel zurückführte«, berichtet Kempchen. »Und das Haus, in dem sie lebte, war kein billiges!«
Projekt im Ländle
Aber es gibt auf dem Pflegemarkt auch Anbieter, die den Wert guter, gesunder Ernährung erkannt haben, betont Kempchen. Einige von ihnen haben bei dem Projekt ›Gutes Essen in der Seniorenverpflegung‹ der Landeszentrale für Ernährung Baden-Württemberg mitgemacht. Das Projekt will seit 2021 für die teilnehmenden Einrichtungen gesunde und attraktive Ernährung organisieren. Vier große Ziele sollen die teilnehmenden Häuser erreichen: einen Bio-Lebensmittel-Anteil im Essen von 20% und einen gesteigerten Anteil von regionalen und fair gehandelten Lebensmitteln sowie die Zertifizierung durch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE).
Die DGE hat ihre zentralen Empfehlungen sehr genau in einem langen Kriterienkatalog dargelegt: Wie viel Getreide kommt auf den Tisch? Wie viel Fisch? Wie oft Obst oder Milchprodukte? Welches Öl wird benutzt? Auch Umfeld und Atmosphäre spielen eine Rolle, ein gut beleuchteter Esstisch und Platz genug für Rollstühle am Tisch sowie ein freundliches und ansprechendes Ambiente im Speiseraum und am Speisetisch. »Wenn die DGE-Kriterien erfüllt sind, können Sie sich darauf verlassen – hier gibt es gutes Essen«, resümiert Dr.Stefanie Gerlach von der Landeszentrale für Ernährung Baden-Württemberg.
Der aktuelle Projektdurchlauf im Südwesten startete im Mai 2023 und wird noch bis zum Oktober 2024 dauern. In Gruppen- und Einzelcoachings werden Küchenpersonal, Mitglieder der Verwaltungen oder Gesundheitsberater der Einrichtungen in dieser Zeit darin geschult, wie sie die vier Ziele erreichen können.
»Die Gemeinschaftsverpflegung bietet einen großen Hebel für die Transformation hin zu nachhaltiger Verpflegung mit einem hohen regionalen und bio-regionalen Wareneinsatz, weil Millionen Menschen täglich in Großverpflegungseinrichtungen wie Heimen und Kantinen essen«, sagt Gerlach. Ein besserer Wareneinsatz dient aber zum Beispiel auch der Umwelt. Immerhin werden im Jahr immer noch elf Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen, 17% davon in der Außer-Haus-Verpflegung.
Der Medizinische Dienst schaut genau hin
Gerade einmal 63 Seniorenheime in Deutschland sind derzeit DGE-zertifiziert. Dass auch in Pflegeheimen nachhaltig, biologisch und gesund gekocht werden muss, wird offenbar erst langsam verstanden. Grund genug auch für den Medizinischen Dienst, bei den Qualitätsüberprüfungen der Pflegeheime genauer hinzuschauen. Geprüft wird zum Beispiel, ob die Ernährung der Bewohnerinnen und Bewohner bedarfsgerecht ist und ob sie genug trinken.
Weil die Ernährung für pflegebedürftige Heimbewohnerinnen und -bewohner besonders wichtig ist, hat das Deutsche Netzwerk zur Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) den Expertenstandard ›Ernährungsmanagement zur Sicherung und Förderung der oralen Ernährung in der Pflege‹ entwickelt, nach dem sich auch der Medizinische Dienst richtet. Dabei achten die Gutachterinnen und Gutachter besonders auf drei Fragen: Wird die Ernährungssituation inklusive ausreichender Flüssigkeitszufuhr der Senioren genauso korrekt erfasst wie der Grad ihrer Selbstständigkeit beim Essen und Trinken? Werden die Bewohnerinnen und Bewohner beim Essen und Trinken bei Bedarf angemessen unterstützt? Werden erforderliche Hilfsmittel zur Unterstützung der Ernährung und Flüssigkeitsaufnahme fachgerecht eingesetzt?
Die Fragen sind auch für die Heime selbst bedeutsam. Denn wenn die Einrichtung nicht reagiert, sollte ein Bewohner zu wenig trinken oder beim Essen nicht die Unterstützung erhalten, die er braucht, oder sollte ein Betroffener durch Versäumnisse der Einrichtung deutlich an Gewicht verlieren, vermerken die Gutachter dies als Qualitätsdefizit. Dabei zeigen sie nicht nur Mängel auf, sie beraten die Einrichtungen auch.
Das Projekt in Baden-Württemberg indessen ist ein Erfolg geworden, auch weil es immer genug Einrichtungen gab, die teilnehmen wollten. Das Projekt dauert in drei Durchläufen insgesamt fünf Jahre, jedes teilnehmende Haus ist für anderthalb Jahre dabei. »Bisher haben 17 Einrichtungen mitgemacht«, freut sich Gerlach.
Zum Beispiel das Seniorenzentrum Rheinauer Tor in Mannheim, ein Haus der Evangelischen Heimstiftung Baden GmbH. »Wir hatten Ärger im Küchenteam und das schlug auf die Qualität«, erinnert sich Hausdirektor Ralf Bastian. »Mal waren es Unzuverlässigkeiten bei den Bestellungen, mal waren es Schwierigkeiten mit den Lieferanten. In jedem Jahr erreichten uns deshalb 25 bis 30 Beschwerden über das Essen. Das ist eine sehr hohe Zahl.« Man brauchte also Hilfe von außen, sagt der Direktor. Schließlich sollten täglich 110 Essen frisch, heiß, gesund und pünktlich auf dem Tisch kommen.
Echter Kürbis statt Tütensuppe
Nach den Coachings und Tipps der Experten im Rahmen des Projekts geht es in dem Mannheimer Haus nun anders zu, berichtet Bastian: Die interne Logistik ist gereift, die Küchencrew wurde ausgetauscht, der neue Küchenchef habe viel dazugelernt, zum Beispiel in Hinblick auf die Rezeptierung, und es wird viel weniger vom Essen weggeschmissen als zuvor. Desserts gibt es inzwischen nur noch im Glas, weil es so appetitlicher aussieht, Suppen werden nicht mehr aus der Tüte bereitet, sondern wenn es Kürbissuppe gibt, dann wird sie in der Küche auch aus Kürbissen hergestellt, Salate werden frisch gemacht und hübsch dekoriert. Suppen mit Nudeln hingegen gibt es nicht mehr, weil sich mancher alte Mensch an den Nudelstücken verschluckte. Auch in der Kaltverpflegung sorgen Wurst- und Käsepläne für die passende Varianz auf dem Frühstückstisch. Die Resonanz bei den Heimbewohnerinnen und -bewohnern ist eindeutig. Bastian: »Wir hatten seither keine einzige Beschwerde mehr.«