Ein Platz an der Tafel

Von Dr. Silke Heller-Jung Lesezeit 4 Minuten
Apfel mit Preisschild über 195,35 (Euro) für den Anteil, den Essen bzw. Ernährung am Bürgergeld hat.

Die Tafeln in Deutschland wurden ursprünglich gegründet, um der Lebensmittelverschwendung Herr zu werden. Inzwischen werden sie für immer mehr Menschen zum Rettungsanker und kommen dabei selbst in Nöte.

Ein Artikel, herausgerissen aus einer amerikanischen Zeitung, gab den Anstoß für die Gründung der ersten Tafel in Deutschland. Die Berliner Ärztin Ursula Kretzer-Mossner hatte im USA-Urlaub einen interessanten Beitrag über die New Yorker Initiative City Harvest gelesen. Deren ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter holten täglich überschüssiges Essen bei Supermärkten und Restaurants ab und verteilten es an Menschen am Rande des Existenzminimums. 1993 gründete die Initiativgruppe Berliner Frauen die erste Tafel Deutschlands.

Auch hierzulande sammeln die Tafeln überzählige Lebensmittel, die nach den gesetzlichen Bestimmungen noch verwertbar sind, und geben diese an Bedürftige ab. Mittlerweile sind es 974 Tafeln mit über 2000 Ausgabestellen bundesweit, die mit 265000 Tonnen geretteten Lebensmitteln pro Jahr zwischen 1,6 und 2 Millionen Menschen jährlich unterstützen. Das Prinzip ist überall das gleiche: Zunächst muss, beispielsweise anhand eines Bescheids vom Sozialamt, die Bedürftigkeit nachgewiesen werden. Danach erhalten die Kundinnen und Kunden einen Ausweis, mit dem sie zu bestimmten Terminen bei der örtlichen Tafel gegen eine geringe Gebühr Lebensmittel erhalten können. Die Tafeln arbeiten »beinahe ausschließlich ehrenamtlich und spendenfinanziert, um Lebensmittel zu retten und diese an armutsbetroffene Menschen weiterzugeben«, erklärte Sirkka Jendis, hauptamtliche Geschäftsführerin des Vereins Tafel Deutschland, Anfang dieses Jahres bei einem Fachgespräch im Deutschen Bundestag. Das Engagement gehe aber längst über die reine Lebensmittelausgabe hinaus. »Die Angebote der Tafeln sind so vielfältig wie die Menschen, die zu uns kommen.« Während manche ausschließlich Lebensmittel ausgeben, bieten andere zusätzlich warme Mahlzeiten an. Manche verfügen über Kleiderkammern oder eine angeschlossene Sozialberatung.

Steigende Kundenzahlen …

Rund 60.000 Menschen sind bundesweit für die Tafeln aktiv, etwa 90% von ihnen ehrenamtlich. »Die Tafeln in Deutschland setzen sich dafür ein, Armut zu lindern und den Betroffenen den Alltag ein wenig zu erleichtern«, so Jendis. Der Bedarf ist groß und wächst weiter. Die Gründe dafür sind vielfältig. »Die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine, die Inflation und die sich zuspitzende Klimakrise führen dazu, dass mehr Menschen in Not geraten und ihr Geld nicht mehr für Essen, Wohnen und das Nötigste reicht«, fasst Andreas Steppuhn, der Vorstandsvorsitzende des Dachverbandes Tafel Deutschland e.V., die wichtigsten Faktoren zusammen. Seit Anfang 2021 sind die Lebenshaltungskosten in vielen Bereichen in die Höhe geschnellt.

Bei Nahrungsmitteln betrugen die Preissteigerungsraten bis zu 20%.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes war im Jahr 2022 etwa jeder Fünfte in Deutschland, insgesamt gut 17,3 Millionen Menschen, von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht.

Der Kreis derjenigen, die auf die Angebote der Tafeln angewiesen sind, beschränke sich längst nicht nur auf »Menschen, die Bürgergeld oder andere Sozialleistungen beziehen«, so Steppuhn. Betroffen seien »immer häufiger auch Menschen, die wenig verdienen, kinderreiche Familien, Alleinerziehende sowie Rentnerinnen und Rentner.« Es handele sich um Menschen, »die arbeiten gehen und mit Bürgergeld aufstocken müssen. Die alleinerziehend sind, in Teilzeit arbeiten und enorm hohe Mieten zahlen. Die ihr ganzes Leben lang so wenig verdient haben, dass ihre Rente jetzt wenige hundert Euro im Monat beträgt. Die psychisch oder körperlich krank sind und deshalb nicht arbeiten können.« Auch viele Geflüchtete zählen zum Kundenkreis.

… rückläufige Spenden

Angesichts der steigenden Nachfrage stoßen immer mehr Tafeln an ihre Grenzen. Laut einer Umfrage des Bundesverbands Deutsche Tafeln im Sommer 2022 sei die Zahl der Hilfesuchenden bei rund 40% der Tafeln um bis zu 50% angestiegen. Bei knapp 8% habe sie sich verdoppelt. Gleichzeitig geht die Menge der gespendeten Lebensmittel zurück, stellt nicht nur Edeltraud Rager, die Leiterin der Nürnberger Tafel, fest. »Viele Supermärkte machen abends einen Abverkauf von Obst und Gemüse zu Sonderkonditionen. Das ist die Ware, die wir sonst am nächsten Tag abgeholt haben«, sagte sie Anfang 2023 in einem Interview für den Tafel-Blog. Und weil vor allem große Firmen ihre Bestellmengen mithilfe Künstlicher Intelligenz immer besser auf den Verkauf abstimmen, bleiben insgesamt weniger Lebensmittel übrig.

Fast zwei Drittel der Tafeln haben angesichts der Knappheit die ausgegebene Lebensmittelmenge pro Haushalt reduziert, etwa jede dritte zeitweise Aufnahmestopps verhängt. Das sei für die Kunden, aber auch für die Ehrenamtlichen belastend, sagt Tafel-Geschäftsführerin Jendis.

Wenn Tafeln geschlossen sind, weil sie Aufnahmestopps haben, dann verschwindet die Not der Menschen nicht, sondern die Menschen werden damit alleingelassen.

Wenn das Geld nicht einmal mehr fürs Essen reicht, sind die Tafeln oft Retter in der Not. »Vor allem frisches Obst und Gemüse sind im Handel so teuer«, sagt Gerda R.* Seit 2016 zählen sie und ihr herzkranker Mann zu den Kunden der Tafel in Frechen, einer Stadt im Speckgürtel von Köln. Die Tafel Frechen wurde im Frühjahr 2002 gegründet, auch sie finanziert sich größtenteils über Sach- und Geldspenden. Die Stadt Frechen und die katholische Kirchengemeinde stellen Räume zur Verfügung. 72 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer packen mit an. Mehrmals pro Woche werden mit dem eigenen Kühltransporter und mit Privat-PKWs bei rund 30 Supermärkten, Bäckereien und Metzgereien, im Großhandel und bei Privatpersonen Lebensmittelspenden eingesammelt, geprüft und im Tafellager mit seinen fünf großen Kühlschränken und einer Gefriertruhe gelagert. An den Ausgabetagen, dienstags und donnerstags, wählen jeweils rund 80 bis 100 Kunden aus dem Angebot aus. Pro Besuch zahlen sie einen Euro. Insgesamt versorgt die Tafel in Frechen etwa 1100 Menschen mit Lebensmitteln, sagt ihr Sprecher Rolf Dünkelmann. Immer mehr Menschen seien dabei, »die früher aus Scham nicht kommen wollten, aber es jetzt müssen«.

Bunte Socke mit Preisschild 46,71 [Euro] für den Anteil von 8,3 % an 563 Euro Bürgergeld
de Jong Typografie

Armutsbedingte Mangelernährung

Wer auf Transferleistungen angewiesen ist, hat pro Tag etwa fünf Euro für Nahrungsmittel und Getränke zur Verfügung. Eine gesunde Ernährung ist damit kaum zu finanzieren. Das Bundeszentrum für Ernährung widmete dem Phänomen der sogenannten Ernährungsarmut im August 2023 ein Expertenforum. Zwar sei die Datenlage in Deutschland unzureichend, hieß es dort. Doch auf der Basis einer Befragung der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) sei davon auszugehen, dass hierzulande rund drei Millionen Menschen von Ernährungsarmut betroffen seien, sich also aufgrund fehlender finanzieller Mittel nicht gesundheitsfördernd ernähren können.

Wenn das Geld knapp ist, kaufen die Betroffenen oft entweder weniger oder qualitativ schlechtere Lebensmittel ein. Statt Obst und Gemüse landen dann eher preisgünstige Sattmacher im Einkaufskorb. Die Folge ist nicht selten eine unzureichende Nährstoffversorgung. Eine solche, häufig armutsbedingte Mangelernährung wird als ›hidden hunger‹ bezeichnet. Dieser ›versteckte Hunger‹ kann die körperliche und geistige Entwicklung von Kindern beeinträchtigen und auch der Gesundheit Erwachsener schaden. Um dem vorzubeugen, gibt es im Rahmen des IN FORMProjekts Tafel i(s)st gesund und nachhaltig kostenlose Seminare für Tafel-Kundinnen und -Kunden, die praxisnah Wissen über eine ausgewogene, preisgünstige Ernährung vermitteln. Für Sabine Werth, die langjährige Vorsitzende der Berliner Tafel, werden solche Angebote und auch die Tafeln selbst noch lange nötig sein. »Ich denke, dass wir Tafeln unsere Arbeit aufgeben können und müssen, wenn es keine Lebensmittelverschwendung und keine armutsbetroffenen Menschen mehr gibt. Vorher nicht.«

* Name geändert

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