Anorexia Nervosa, umgangssprachlich Magersucht, ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeitsrate. Für etwa 10% der Betroffenen gibt es keinen Weg zurück. Der Weg aus der Essstörung ist lang.
Als sich Mona mit 14 Jahren verliebt, fühlt sie sich unzulänglich und zu dick. Sie möchte abnehmen, erst ein bisschen, dann immer mehr. Von 52 auf 50 auf 48 Kilogramm. Nie mehr als 700 Kilokalorien am Tag. Mindestens zweimal am Tag Wiegen. Jenseits der Zahlen ist nichts mehr wichtig. Freundinnen, Familie, Hobbies – für all das hat sie keine Zeit und keine Kraft mehr. Während andere sie zu überzeugen versuchen, sie hätte ein Problem, weiß Mona ganz sicher: Sie muss dünner sein! Sie muss den starken Willen spüren, der sich dem Hunger widersetzt.
Immer mehr Fälle
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes starben 2021 in Deutschland 53 Menschen an Magersucht. Im Durchschnitt ist jeder fünfte der mit Anorexia Nervosa assoziierten Todesfälle ein Suizid. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bestätigt eine klare Zunahme von Essstörungen. Psychische Belastungen während der Corona-Pandemie haben diesen Trend offenbar weiter verstärkt: Einer Studie der DAK Gesundheit zufolge ist der Anteil von Jugendlichen (15 bis 17 Jahre) mit einer stationär behandelten Essstörung im Jahr 2021 gegenüber 2019 um 40% gestiegen. Die häufigste Essstörung ist die Binge-Eating-Störung, bei der die Betroffenen unter unkontrollierbaren Essanfällen leiden. Auch bei der Bulimie kommt es zu Essanfällen, denen jedoch beispielsweise mit Erbrechen, Abführmitteln oder ausdauerndem Hungern entgegengewirkt wird. Bei der Magersucht wird ein möglichst geringes Gewicht angestrebt und durch stark kontrolliertes Essen herbeigeführt. Ein besonderes Kennzeichen ist die verzerrte Selbstwahrnehmung.
Blickt Mona in den Spiegel, verspürt sie Ekel: An den Schenkeln, an den Oberarmen, am Bauch – in ihrer Vorstellung ist alles zu viel. Sie leidet an einer Körperbildstörung, das heißt, sie sieht und spürt ihren Körper deutlich dicker und größer als er bei ihrem Gewicht sein kann.
Ursachen, Einflussfaktoren, Gründe
Viele Faktoren können die Entwicklung einer Magersucht begünstigen. Dazu gehören genetische, hormonelle und metabolische Einflüsse. Aber auch Charakterzüge wie Perfektionismus und Ehrgeiz gelten als Risikofaktoren. Und auch sozialkulturelle Themen wie Schönheitsideale und Social Media spielen eine Rolle bei der Verstärkung von Symptomen. Das Wenige, was Mona isst, erfasst sie nun in einer App. Und irgendwann teilt sie die Ergebnisse auch ›Seelenverwandten‹ mit: In einer geheimen WhatsAppGruppe erzählt sie anderen Mädchen, was sie tagsüber gegessen hat, wie viel sie in der nächsten Zeit abnehmen will, teilt Bilder von besonders knochigen Frauen und ›Glaubenssätze‹, die die Motivation aufrechthalten sollen. Zwei Drittel der Magersüchtigen leiden an psychischen Begleiterkrankungen wie Depressionen und Angststörungen. Auch Mona entwickelt eine panische Angst davor zuzunehmen. Sie befürchtet, dass schon allein durch das Anfassen von Lebensmitteln oder durch Rückstände im Leitungswasser Kalorien in ihren Körper gelangen könnten. Ihre Eltern sind verzweifelt. Sie haben es mit Empathie und Strenge probiert, doch sie scheinen nicht durchzudringen zu ihrer hungernden Tochter. Sie bringen Mona zur Therapie in eine Klinik.
Nach der Klinik ist vor der Heilung
Mona nimmt zu. Die strenge Essroutine, die Gruppengespräche, die Körpertherapie und die klaren Strukturen geben ihr Halt. Sie fühlt sich allmählich besser, hat mehr Energie und Antrieb und kann zeitweise ihre Magersucht als Krankheit ansehen, die sie bekämpfen möchte und die sie lange begleiten wird. Ein dreiviertel Jahr nach dem Klinikaufenthalt hält Mona weiterhin ihr Gewicht und ist stolz darauf, dass die Magersucht nicht mehr alle Bereiche ihres Lebens bestimmt – auch wenn Essen, Gewicht und Kontrolle sie nie ganz loslassen. Sie macht eine ambulante Psychotherapie und arbeitet an ihrem Selbstwertgefühl. Sie trifft ihre Freundinnen und erobert sich Lebensfreude zurück. Mit der Corona-Pandemie brechen haltgebende Strukturen weg. Die Schule fällt aus, auch Monas Freizeit, vor allem die Zeit mit Freundinnen, liegt auf Eis. Mona geht joggen. Die regelmäßige Bewegung an der frischen Luft tut anfangs gut. Dann beginnt sie wieder abzunehmen.
Langwierige Heilung, Rückfall und Hoffnung
Ein Drittel der Patientinnen und Patienten erleiden im ersten Jahr nach der stationären Behandlung einen Rückfall. Die S3-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung der Essstörungen, die derzeit überarbeitet wird, gibt die Heilungsquote für Anorexia Nervosa mit 50% an. Bei weiteren 30% bessert sich zumindest die Symptomatik. Für alle anderen gibt es kein Zurück: Die Magersucht wird chronisch und endet zum Teil tödlich. Der Handlungsbedarf ist offenkundig. An der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Charité-Universitätsmedizin Berlin haben die Ernährungswissenschaftlerin Dr.Verena Haas und ihr Team aktuell eine vielversprechende Pilotstudie zur Familienbasierten Therapie (FBT) abgeschlossen. Sie hoffen, dass sich nun eine umfassende randomisierte kontrollierte Studie anschließt, die vom Innovationsfond des Gemeinsamen Bundesausschusses finanziert werden und weitere Evidenz liefern soll. Für die FBT sind die Familie, also Eltern und Geschwister, aber auch andere enge Bindungspersonen die wichtigste Ressource im Heilungsprozess. Dieser wird über durchschnittlich zehn Monate in drei Phasen strukturiert: In der ersten Phase wird die Familie engmaschig begleitet und familientherapeutisch dabei unterstützt, das eigene Kind zum Essen und Zunehmen zu bewegen. Jede Mahlzeit wird gemeinsam mit einem Familienmitglied eingenommen. In der zweiten Phase entscheidet die oder der Erkrankte allmählich wieder selbstständig über die eigenen Mahlzeiten. Therapeutinnen und Therapeuten des FBT-Programms unterstützen weiterhin, aber die Zeitabstände zwischen den Beratungsgesprächen werden größer. Die dritte Phase orientiert sich an der individuellen Situation der oder des Betroffenen und fokussiert auf die Rückkehr in den Alltag und die Nachsorge. Hier kann zum Beispiel auch eine weitergehende ambulante Psychotherapie empfohlen werden.
Das Risiko eines Rückfalls
Die FBT soll im besten Fall als Alternative zur stationären Therapie angeboten werden können, ohne diese vollständig zu ersetzen. »Wir würden gern besser verstehen, für wen FBT passt und für wen nicht« erklärt Haas. Von den 31 Jugendlichen, die an der Pilotstudie teilnahmen, musste knapp ein Drittel in die stationäre Therapie überführt werden. Dennoch hat die FBT über zwölf Monate hinweg die gleichen Behandlungserfolge erzielt wie eine im Schnitt viermonatige vollstationäre Therapie. 2024 folgt eine Nachuntersuchung der Pilotprobanden und soll mehr Aufschluss über die Rückfallquote geben. Für die stationäre Therapie ist das Rückfallrisiko vier bis neun Monate nach der Entlassung am höchsten.
Durch die Mangelernährung während der Magersucht werden insbesondere Herz, Nieren und Darm belastet; schlimmstenfalls kommt es zu Herzrhythmusstörungen oder Herzstillstand. Zu den unmittelbaren Folgen gehören auch Kreislauf- und Blutdruckprobleme, Erkrankte frieren ständig. In der Pubertät kann die Menstruation ausbleiben. Langfristig ist das Risiko für Osteoporose erhöht und die Lebenserwartung insgesamt deutlich verringert.
Mona hält sich nach dem zweiten Therapieanlauf mit großen Erwartungen zurück: »Ich kann mich darauf freuen, mit meinen Freundinnen essen zu gehen. Aber denke ich über das Essen nach? Über meinen Körper? Immer! Es ist ein Grundrauschen, von dem ich nicht weiß, ob es jemals weggehen wird.«
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